Der Arbeitstag beginnt mit einem Kniefall
Fett gedruckt steht es als Slogan auf den Dienstwagen: Mit dem Herzen dabei – Sozialstation Sankt Elisabeth in Aschaffenburg. Kraus ist einer von 15 Mitarbeitern der Dienststelle Schweinheim. Vier Filialen hat die älteste Sozialstation Bayerns, die auf eine 150-jährige Tradition zurückschauen kann. Wendig lenkt der 40-jährige Pfleger den weißen Kleinwagen durch den Ort. Sieben bis acht Patienten stehen in zwei Stunden auf dem Dienstplan. Bei den meisten nur Blut abnehmen, Blutzucker messen, Spritzen – fertig. Weil Diabetiker-Patienten noch vor dem Frühstück Insulin bekommen müssen, hat er es eilig.
Kraus hört zu, als Anneliese von der Moral der Griechen und Beates Frankreich-Reise erzählt. Er füllt dabei den Leistungsnachweisbogen zur Abrechnung mit der Krankenkasse aus und zählt Tabletten ins Fach „Montagmorgen“. Trippelnd sitzt er auf der Sofakante, bereit, eine Sprechpause zum Aufspringen zu nutzen. „Das ist verzwickt“, beschreibt er das Dilemma zwischen reiner Pflege und menschlicher Zuwendung. „Ein Schwatz ist drin. Wenn ich mich lang aufhalte, macht sich der Nächste Gedanken, wo ich bleibe.“
Auf der Fahrt bespricht er mit der Pflegedienstleiterin per Handy den Wechsel von Kompressionsverbänden eines Patienten. „Alles klar, genaueres, wenn ich wieder in der Dienststelle bin“, verabschiedet er sich, stoppt das Auto, schnappt sich Tasche und Schlüssel und sperrt die Tür zu Wilhelm H.s Häuschen auf. Dieser wartet vor gerichtetem Frühstück. Der 78-Jährige lebt allein. „Früher bin ich viel gewandert. Jetzt male ich, schreibe Aphorismen und modelliere Menschen aus aller Herren Länder.“ Vollgestopft sind seine Räume mit Krempel und Bastelsachen. Auf dem Tisch türmen sich Kleber, Farben und Papiere. Gerade eine kleine Fläche zum Essen und Malen bleibt frei. Geduldig schiebt Kraus dem alten Mann das T-Shirt hoch und spritzt ihm die Medizin in den Bauch. Nicht gerade leicht, denn Wilhelm fuchtelt mit seinen neuesten Kreationen herum und will dafür Anerkennung.
Die sonstigen sozialen Kontakte des Rentners sind gleich null. Hin und wieder machen zwei Zivis sauber und ein Nachbarskind malt bei ihm. Unter dem Tisch stapeln sich leere Plastikteller vom Essen auf Rädern. „Da, da sind zwei Briefe, die bringst zur Post. Und Kleber brauch’ ich, den von Pritt“, befiehlt er dem Pfleger. „Besorgen wir Ihnen bis morgen“, entgegnet Kraus, während er die Post in seine Tasche zu den Patientenbögen schiebt. „Kleinere Besorgungen machen wir, auch wenn medizinische Fachkräfte dafür eigentlich zu teuer sind.“
Deshalb arbeitet die Sozialstation mit anderen Einrichtungen zusammen. Sie vermittelt das Essen auf Rädern oder je nach Bedarf Haushaltshilfen und Fahrdienste. „Alles wird individuell auf die Wünsche der Kunden zugeschnitten“, erläutert Liselotte Vogel, Geschäftsführerin der Caritas-Einrichtung. Wer will, kann die Aktion „Tatendrang“ in Anspruch nehmen. Das sind Ehrenamtliche, die alte oder kranke Menschen besuchen, mit ihnen spazieren gehen und so Angehörige entlasten und übernehmen, was nicht mit den Kassen abgerechnet werden kann.
Vor der Sparkasse trifft der Pfleger Herrn V. Seine Frau ist gestorben. Täglich hat Kraus den 83-Jährigen bei der Pflege unterstützt. „Wie geht’s denn so allein? Schreiben Sie wieder Gedichte?“ „Ja, ja, jetzt habe ich wieder Zeit dazu. Ich komme ganz gut zurecht. Sie hatte ein schönes Alter“, antwortet der Rentner aus dem Auto heraus. Er holt tief Luft und ruft: „Eines Tages werden Sie auch zu mir kommen müssen!“ Kraus streicht ihm über die Schulter, ruft ihm ein „Lassen Sie sich noch etwas Zeit bis dahin!“ und klingelt an der nächsten Tür.
Richtige Schwerstarbeit wartet bei Familie H. auf den Pfleger. Die Mutter ist ein so genannter Pflegefall. Für sie braucht er fast eine Stunde. Beim Eintreten drückt ihm der Sohn Schüssel und Waschlappen in die Hand. Per Knopfdruck bringt Kraus das Bett auf Arbeitshöhe. Sorgsam zieht er der alten Frau Strümpfe und Schlafanzughose aus, befreit sie aus ihrer Windelhose und wäscht sie. Behutsam redet er auf seine Patientin ein und tätschelt ihre Hand. Sie hat Angst. „Wollen wir heute mal wieder versuchen, ein Stück zu gehen?“, fragt Kraus. Sie wird plötzlich ganz steif, blockt ab. Unbeirrt macht er seine Arbeit weiter, cremt ihre abgeriebenen Füße ein, zieht ihr frische Wäsche über, und schafft es sogar, sie in den Rollstuhl zu locken.
Nicht alle Menschen seien so ruhig und auf ihre Art hilfsbereit, wie die bettlägerige Dame, erklärt der Pfleger. Hin und wieder bekomme er eine Ohrfeige oder werde wüst beschimpft. „So was versuche ich humorig zu nehmen“, sagt er. „Die Leute sind ja in einer anderen Bewusstseinswelt. Aber wenn es geht, gehe ich vorher in Deckung!“ Todesfällen unter den Patienten lässt sich schlechter ausweichen. Getroffen sei er jedes Mal, wenn jemand stirbt. „Manche nehme ich gedanklich mit heim, aber soweit es geht, lasse ich das hinter mir“, erklärt er. Er sei auch noch nie zu einer Beerdigung eines Patienten gegangen. „Ich mag meinen Beruf, lerne viele Leute kennen und baue auch ein gutes Verhältnis zu den Angehörigen auf.“ Doch nach Dienstschluss braucht Christian Kraus Distanz.
Hinweis: Am Sonntag, 17. November, findet ein Festakt anlässlich des 150. Geburtstages der Sozialstation Sankt Elisabeth in Aschaffenburg statt. Um 9.30 Uhr feiert Bischof Dr. Paul-Werner Scheele einen Gottesdienst in der Kirche Sankt Agatha. Ab 11 Uhr sind Mitarbeiter, Angehörige und Ehrengäste in den kleinen Saal der Stadthalle eingeladen. Den Festvortrag hält Prälat Hellmut Puschmann, Präsident des Deutschen Caritasverbandes.
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