Würzburg (POW) Weihnachten als Fest des besinnlichen Beisammenseins ist häufig eine Erwartung, die in der Realität nicht erfüllt werden kann. Geschenke besorgen, die Koordination von Familienbesuchen, Plätzchenbacken mit den Kindern und die Weihnachtsdekoration: Hinter den Festtagen steckt viel Arbeit, die oft für andere unsichtbar bleibt. Diese Liste der „unsichtbaren“ Aufgaben, die an den Weihnachtstagen häufig noch länger ist als im Alltag, nennt sich „Mental Load“. Wer überwiegend davon betroffen ist, warum der „Mental Load“ in der Weihnachtszeit besonders hoch ist und was dagegen getan werden kann, erzählt die Psychologin Anette Jacobi, Leiterin der Ehe-, Familien- und Lebensberatung (EFL) Würzburg im POW-Interview.
POW: Was bedeutet „Mental Load“?
Anette Jacobi: „Mental Load“ steht für die unsichtbare Denkarbeit, die hinter Vorgängen steckt. Die „Care-Arbeit“, die vor allem im Familienhaushalt geleistet wird. Dazu zählen Überlegungen wie: „Was gibt es heute zum Abendessen?“ Dahinter stecken weitere Planungen, beispielsweise: „Was haben wir noch im Kühlschrank? Wer geht einkaufen? Wer holt die Kinder vom Fußballtraining ab?“ Diese Denkarbeit ist oft belastend, da sie häufig an einer Person hängen bleibt. Sie liegt schwer auf den Schultern, wie der Begriff „Mental Load“ zeigt. Wörtlich übersetzt heißt er „mentale Last“.
POW: Wer trägt den meisten „Mental Load“ innerhalb der Familie?
Jacobi: Ohne generalisieren zu wollen, kann man klar sagen, dass in heterosexuellen Beziehungen meistens die Frau den „Mental Load“ trägt. Das ist durch die Forschung gut belegt. Häufig liegt ein Großteil, wenn nicht die Gesamtheit, der Care-Arbeit bei Frauen. Das führt zu Erschöpfung und belastet dadurch auch oft die Beziehungen. Viele Paare wünschen sich eine gerechtere Aufteilung. Meistens hapert es an der Umsetzung: Die gesellschaftliche Erwartungshaltung und fehlende Rollenvorbilder stellen ein Problem dar. Auch die Kommunikation ist nicht immer leicht. Hier kommen wir als Beratungsstelle ins Spiel. Oft wird „Mental Load“ nicht direkt als Problem genannt, er schwingt aber immer mit und liegt oft unter den anderen Problemen.
POW: Was kann bei zu viel „Mental Load“ in der Weihnachtszeit getan werden?
Jacobi: Ein Tipp ist es, sich nicht vom „Mental Load“ an Weihnachten überraschen zu lassen. Für viele kommt die Weihnachtszeit viel zu plötzlich, dabei könnte man schon im Herbst anfangen, sich als Familie zusammenzusetzen und zu überlegen, wie die Aufgaben in der Weihnachtszeit fair verteilt werden können. Dabei ist es wichtig, nicht nur einzelne Aufgaben abzugeben, sondern ganze Aufgabenbereiche, zum Beispiel das Thema Geschenke. Delegiert man nur eine Aufgabe an jemand anderen, bleibt der „Mental Load“ der Entscheidung und Planung doch wieder nur an einer Person hängen. Es muss ein gewisses Problembewusstsein da sein, genauso wie eine Vertrauensebene in der Beziehung, die das Ansprechen solcher Themen zulässt. Daran scheitert es oft. Unter Druck ist es schwierig, die Dinge liebevoll zu formulieren. Sie kommen beim Gegenüber oft als ein großer Vorwurf an. Deshalb ist mein Tipp, die Themen frühzeitig anzusprechen und gar nicht erst zuzulassen, dass zu hohe Erwartungen entstehen. Wenn man sich als Familie zusammensetzt, kann man gemeinsam überlegen: „Wie stellen wir es uns vor? Was brauchen wir, damit es gut wird? Brauchen die Kinder wirklich den selbstgemachten Adventskalender? Muss es das Essen sein, dass zwei Tage Vorbereitung braucht?“ Es geht um ein Bewusstsein und um gegenseitiges Vertrauen.
POW: Welche Unterstützungsmöglichkeiten kann man anbieten, vor allem innerhalb der eigenen Familie?
Jacobi: Diese Frage beinhaltet, dass einer Person schon aufgefallen ist, dass die andere zu viel „Mental Load“ trägt. Diese Wahrnehmung und die Wertschätzung für die „unsichtbare“ Arbeit sind ein erster, wichtiger Schritt. Der zweite Schritt ist das aktive Ansprechen und die Suche nach vorübergehenden Lösungsmöglichkeiten: „Wie geht es dir gerade? Ist dir das zu viel? Was kann ich anbieten? Wie können wir es gemeinsam lösen?“ Ein praktischer Tipp ist außerdem das Nutzen von Exceltabellen und Apps zur Organisation von Haushalt und Familie. Solche technischen Hilfsmittel nutze ich als Mutter eines vierjährigen Sohnes auch privat. Dadurch wird der „Mental Load“ nicht nur auf andere Personen, sondern in die App übertragen.
POW: „Mental Load“ ist eine psychische Belastung für die Betroffenen. Was belastet die mentale Gesundheit sonst noch in der Weihnachtszeit?
Jacobi: Einerseits die zu hohen Erwartungen. An Weihnachten entsteht der Eindruck, dass unheimlich viel vermeintlich erledigt werden muss. Dieser starke Erwartungsdruck führt oft zu Frustration, Enttäuschung und Schuldgefühlen. Andererseits ist Weihnachten eine Zeit der Familie und der Einkehr. Das kann belastend für Menschen sein, die einen Verlust erfahren haben, die nicht mit ihrer Familie feiern oder die einsam sind.
POW: Wie schaffe ich es, in dieser Zeit gut auf mich selbst zu achten?
Jacobi: Ich empfehle, sich aktiv Zeit für sich selbst einzuplanen. Sei es eine halbe Stunde für das Lieblingsbuch, ein Spaziergang oder zehn Minuten Zeit für Meditation. Man sollte nicht vergessen, wofür man all den Aufwand an Weihnachten betreibt. Es kann helfen, sich und andere darauf zu besinnen, wofür man dankbar ist. Wenn man aktiv hinschaut und die Dinge in Perspektive setzt, hilft das meistens schon. Es ist wichtig, Hilfe anzunehmen und sich einzugestehen, wo man sich verrannt hat. Man darf auch mal Nein sagen und Hilfe einfordern.
POW: Wie kann ich auch gut auf andere achten? Welche Anzeichen gibt es, dass es jemandem nicht gut geht?
Jacobi: Auch hier rate ich, erst mal innezuhalten. Wenn ich nur funktioniere, kriege ich auch um mich herum nicht viel mit. Wenn ich das Gefühl habe, es geht jemandem in meinem Umfeld nicht gut, kann ich diese Vermutung erstmal äußern. Dann sollte ich konkrete Vorschläge machen und aktiv Hilfe anbieten. Das gilt nicht nur für die eigene Familie, sondern auch für Freundinnen, Nachbarn oder Kollegen. Das wichtigste ist, der Person zu zeigen, dass man sie sieht. Anzeichen dafür, dass es jemandem nicht gut geht, sind schnelle Reizbarkeit, Müdigkeit, Erschöpfung und dass sich die Person häufiger zurückzieht als sonst.
POW: Was möchten Sie Familien abschließend noch für die Advents- und Weihnachtszeit mit auf den Weg geben?
Jacobi: Die Empfehlung, sich im Vorfeld zusammenzusetzen und sich zu fragen: „Wie wollen wir Weihnachten gestalten?“ Und dass sie nicht vergessen: Weihnachten darf einzigartig gestaltet werden, wie es der Einzigartigkeit von Menschen entspricht. Und sollte es doch mal zum Konflikt kommen, darf man nicht verzagen. Streit gehört dazu und darf sein. Nur weil Weihnachten ist, muss es nicht durchgehend besinnlich sein. Wichtig ist, emphatisch zu bleiben, das gilt für das ganze Jahr. Man darf sich darauf einigen, dass man sich uneinig ist.
Das Interview führte Judith Reinders (POW)
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